Urushi? Was ist das?

Einfach gesagt ist Urushi ein Lack. Aber so einfach ist es dann doch wieder nicht.

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In diesem Blogeintrag möchte ich Dir einen kleinen Einblick in diesen außergewöhnlichen, aber dennoch natürlichen Werkstoff geben. Urushi ist im Gegensatz zu den meisten heute gängigen Lacken natürlichem Ursprungs und wurde nicht für einen bestimmten Sinn und Zweck entwickelt. Gewonnen wird er also nicht in großen Industrieanlagen, sondern aus einer Pflanze, genauer gesagt aus dem chinesischen Lackbaum (Rhus vernicifera). Da sich dessen Verbreitungsgebiet auf den ostasiatischen Raum beschränkt, ist Urushi als Werkstoff in anderen Regionen der Erde nahezu unbekannt und besitzt beispielsweise in Deutschland keine lange Tradition. Im Laufe des Artikels möchte ich vor allem auf die Anwendungsgebiete, die Eigenarten und die verschiedenen Arten des Naturlacks eingehen.

Vom Lackbaum zum fertigen Kunstwerk:

Der Beginn eines jeden Kunstobjekts, das mit oder aus Urushi gefertigt wird, steht die Ernte des Roh-Urushi. Hierzu werden über einen Zeitraum von mehreren Wochen waagerechte Einschnitte in die Rinde des Lackbaums eingebracht. Der austretende Baumsaft wird mit Hilfe von eigens für diesen Zweck angefertigten Werkzeugen aus den Einschnitten geschabt. Im Anschluss an die eigentliche Ernte wird das Roh-Urushi aufbereitet. In diesem Prozess kommen verschiedene Verfahren zum Einsatz, unter welche unter anderem das Raffinieren, Dehydrieren und das Filtern des Rohstoffs fallen.

Ein kleiner Hinweis am Rande: Urushi zur Oberflächenveredelung auf Füllfederhaltern oder anderen Schreibgeräten zu verwenden, ist eher eine neumodische Nischen-Erscheinung. Bei den meisten traditionell mit Urushi beschichteten Gegenständen handelt es sich um andere Gebrauchsgegenstände wie Geschirr oder kleine Truhen. Gelegentlich findet der Baum-Lack aber auch Anwendung in rein dekorativen Objekten.

Was aber macht die Arbeiten mit Urushi so besonders im Vergleich zu solchen mit anderen Lacken?

Neben der Herkunft ist der Aushärtungsprozess einer der wichtigsten Unterscheidungspunkte gegenüber anderen Lacken. Urushi trocknet nämlich nicht, es härtet. Das bedeutet, dass kein Lösungsmittel wie Wasser oder Alkohol aus dem Lack entweicht und so eine feste Struktur erreicht wird, sondern, dass die molekulare Struktur verändert wird. Bei Urushi geschieht das durch eine enzymatische Polymerisierung der enthaltenen Urushiole (einer der Hauptbestandteile von Urushi). Da es sich hierbei um einen natürlichen Vorgang handelt und ein Enzym, die Polymerase, involviert ist, kann diese Reaktion nur unter bestimmten Umweltbedingungen stattfinden. Die wichtigsten Faktoren hierfür sind die Temperatur und die relative Luftfeuchtigkeit.

Um diese Bedingungen zu schaffen und möglichst konstant zu halten, kommen spezielle Öfen zum Einsatz, die “Urushi-Furo”. Die optimalen Bedingungen für die Polymerisation liegen in der Regel bei ca. 25 Grad Celsius und einer relativen Luftfeuchtigkeit von 80-85 Prozent. Hat man also nun das raffinierte und gereinigte Urushi und seinen Urushi-Furo, dann kann es losgehen. Aber Vorsicht! Urushiole können vor der Polymerisation starke allergische Reaktionen auslösen. Mit zwei linken Händen bietet es sich deshalb an, vorsorglich Gummihandschuhe anzuziehen. Ist die Reaktion abgeschlossen, ist Urushi aber völlig unbedenklich und ungefährlich.

Urushi ist heutzutage in verschiedenen Varianten erhältlich; in schwarz, rot, in nahezu durchsichtig und noch einigen anderen. Die gängigsten hierbei sind allerdings seit Jahrhunderten das zinnoberrote Aka-Urushi, das schwarz Roiro-Urushi und das vermeintlich minderwertige Seshime-Urushi aus den Ästen des Lackbaums. Letzteres wird hauptsächlich zur Grundierung verwendet und kann sogar durch Zugabe von gebrannter Tonerde als eine Art Spachtelmasse verwendet werden.

Den meisten Gegenständen mit einer Oberflächenbeschichtung aus diesem außergewöhnlichen Baumlack liegt eine Basis aus Holz zugrunde. Oft wird diese im ersten Arbeitsschritt mit Seshime-Urushi beschichtet und versiegelt. Weist das Holz Risse oder verschieden starke Unebenheiten wie Schleifspuren oder Astlöcher auf, so werden diese meistens mit besagter Spachtelmasse verschlossen. In einzelnen Fällen werden solche allerdings auch als gestalterische Merkmale aufgegriffen bzw. hervorgehoben. Für das endgültige Design eines jeden Objekts werden dann durch viele hauchdünne Lackaufträge, aufwendige Schleifarbeiten und lange Härtezeiten, Oberflächengüten erreicht, die bis heute von anderen Lacken unerreicht sind. Dabei kann es je nach Aufwand und Anzahl der aufgetragenen Schichten schnell zu mehreren Monaten Fertigungszeit kommen. Als letzter Arbeitsschritt bei so ziemlich jedem Objekt steht die finale Politur an.

Über die Zeit haben sich neben den sehr schlichten Designs aus schwarzen und roten Flächen auch andere Techniken und Designs entwickelt. Durch das Verändern der Oberflächenstruktur beim Härten im Urushi-Furo entstehen beim Anschleifen immer neue und außergewöhnliche Muster. Eine der gängigsten Methoden hierfür ist das Einstreuen von Pflanzensamen, die nach dem Härten leicht wieder entfernt werden können, und eine geradezu zerklüftete Oberfläche hinterlassen. Der Fantasie sind hier keine Grenzen gesetzt.

Natürlich ist das Thema Urushi an diesem Punkt nicht abgehakt und tatsächlich gibt es ganze Bücher, die sich ausschließlich mit den Techniken rund um das Handwerk beschäftigen. Ich hoffe dennoch, wir konnten Dir hier einen kleinen Einblick in das Thema geben und Dich vielleicht sogar dazu motivieren, Dich näher mit dem Thema zu auseinanderzusetzen.

Stephan Berg